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Neurodivergent und Frau sein?

Grafik "Autismus er-leben"

Einen Platz finden in einer überfordernden Welt

Neurobiologisch bedingte Wahrnehmungsbesonderheiten wie ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom), Autismus (auch Autismus-Spektrum-Störung = besondere Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung mit Auswirkungen auf soziale Interaktion, Kommunikation und Verhaltens), Dyskalkulie (Rechenschwäche), Legasthenie (Rechtschreibschwäche), Dyspraxie (fein- und grobmotorische Schwierigkeiten), Synästhesie (Sinnesreize werden mit weiteren Wahrnehmungen verknüpft, z.B. Farben, Formen, Klänge), Tourette-Syndrom (sich in schneller Abfolge wiederholende Tics) und auch Hochbegabung werden unter dem Konzept der „Neurodiversität“ zusammengefasst. Studien besagen, dass 15-20 % der Bevölkerung eine „neurodivergente Ausprägung“ haben. In der Regel zeigt sich die andersartige Wahrnehmung bzw. neuronale Verarbeitung im Gehirn bereits im frühen Kindesalter. Neurodivergenz ist keine Krankheit und auch nicht heilbar. Warum auch, die neuronale Reizverarbeitung im Gehirn ist bei diesen Menschen einfach nur anders als beim Durchschnitt der Bevölkerung.

Überleben zwischen Rollenspiel und Authentizität

Betroffene Personen müssen also Wege finden, das Leben mit ihrer Neurodivergenz zu meistern. Dabei müssen sie viele Hürden überwinden, sich anpassen, individuelle Strategien und mitunter erst „ihre Rolle“ finden. Für viele wird das Leben zum Theaterspiel und damit oft sehr anstrengend.

In unserer letzten Ausgabe von „Autismus er-leben“ hat eine heute erwachsene, neurodivergente Frau über die Erfahrungen und Erlebnisse in ihrer Jugend während der Wendezeit berichtet. Nun folgt der zweite Teil ihrer Schilderungen, wie sie heute als Erwachsene mit ihrer diagnostizierten Wahrnehmungsbesonderheit lebt.

Meine anstrengende Rolle als „Erwachsene Frau“

Während meiner Schulzeit hatte ich gelernt: Wenn ich nach außen fröhlich, laut und lustig wirkte und mich mit Menschen zeigte, wurde ich von ihnen als sozial „normal“ wahrgenommen. Sie glaubten dann, ich wäre eine von ihnen. Also entwickelte ich eine Rolle – die einer Frau, die fest im Leben steht, alles im Griff hat, erfolgreich ist, viele Freunde und Bekannte hat, gern weltweit reist und berühmte Persönlichkeiten trifft.

Erwachsen zu werden als neurodivergente Person bedeutet vor allem eines: Bloß nicht zu sehr auffallen! Und wenn ich auffalle, dann bitte nur auf eine Weise, die von anderen wohlwollend aufgenommen wird. Das ist wahnsinnig anstrengend, weil ich jede Situation analysieren, bewerten und entsprechend regulieren muss. Ich höre oft: „Wieso bist du so kalt?“ Oder Menschen reden über mich gegenüber anderen – die einen finden mich total arrogant, die anderen beschreiben mich als herzlich, wortgewandt und sozial (Letzteres ist wohl meine „Rolle“.). Beides scheint zu stimmen, und doch beschreibt es gut mein Dilemma.

Erfahrungen mit Beziehungen

In diesem wachsenden Bewusstsein traf ich dann meinen ersten Beziehungspartner. Es fiel mir extrem schwer, mich darauf einzulassen – nicht nur sozial und emotional, sondern auch körperlich. Aber weil es alle taten, weil es als normal und angemessen galt – vor allem im ländlichen Raum – ließ ich mich darauf ein. Obwohl ich eigentlich gut hätte allein bleiben können. Das habe ich aber erst viel später verstanden.

Es gab nie viele Beziehungspersonen in meinem Leben. Nach meiner letzten Trennung wurde mir klar: Ich brauche dieses Modell von Partnerschaft nicht. Es passt einfach nicht zu mir. Ich mag es, mich über meine Interessen auszutauschen, über fachlich relevante Themen zu sprechen – auch gern gemeinsam mit einer Person. Sie gibt mir Sicherheit, z. B. beim Besuch von Ausstellungen in öffentlichen Räumen. Alles andere ist für mich mehr Belastung als Bereicherung.

Ich habe grundsätzlich kein echtes Interesse an Menschen – es sei denn, sie teilen meine Interessen und sprechen über Themen, die mich wirklich interessieren. Ich brauche keine sozialen Treffen außerhalb meines beruflichen Kontexts. Weil es viele Jahre einfach nicht funktioniert hat.

Ein Bilderrahmen mit einen selbstgemalten Baum-Motiv liegt auf einen mit Tisch mit karierter Decke, Blumen und einer Kerze.

Was mir guttut

Wenn ich Ruhe habe, allein bin, arbeiten kann – dann bin ich zufrieden. Meine Wohnung ist mein absoluter Safe Space. Auch wenn mein ADHS dafür sorgt, dass ich mich an vielen Dingen störe, weil sie nicht so perfekt oder strukturiert sind, wie ich sie gerne hätte. Aber: Allein kann ich meinem eigenen Rhythmus folgen, ohne auf andere achten zu müssen.

Das Erwachsenwerden bedeutete für mich auch, die „kindliche Welt“ aufzugeben. Jedenfalls wurde es so erwartet. Erst vor ein paar Jahren habe ich gemerkt, wie viel Halt mir Kuscheltiere geben. Natürlich hatte ich im Zuge des Erwachsenwerdens alle aussortiert. Heute sind wieder viele Neue bei mir eingezogen. Das gehört für mich zu meiner Versöhnung mit meiner neurodivergenten Seite.

Was ich brauche

Kleidung gibt mir Sicherheit. Ich kaufe Hosen fünf- oder sechsmal – gleiche Farbe, gleiche Größe. Dasselbe mit Schuhen. Meine Kleidung ist immer jahreszeitlich angepasst – aber nie einzigartig im Schrank. Alles mehrfach vorhanden.

Und ich brauche Verlässlichkeit, konkrete Aussagen. Wenn ich mit jemandem verabredet bin und sage: „Bitte sei um 15:30 Uhr bei mir“, dann meine ich 15:30 Uhr. Nicht 14:25 Uhr. Und auch nicht 14:35 Uhr. So etwas bringt mich völlig aus dem Konzept. Auch zu Terminen fahre ich lieber eine Stunde zu früh los, warte vor Ort, als zu spät zu kommen. Und Aufgaben erledige ich am liebsten sofort – weil ich sie sonst durch mein ADHS vergesse, aber auch, weil es mir ein gutes Gefühl gibt, Dinge direkt zu schaffen.

Wenn ich mich privat mit jemandem aus dem beruflichen Kontext treffe, weil es nötig ist, die berufliche Beziehung aufrechtzuerhalten oder zu vertiefen, dann brauche ich exakte Informationen: Ort, Uhrzeit, Ablauf. Fehlt mir das, werden 24 bis 48 Stunden schnell zur Qual. Ich weiß dann nicht, was mich erwartet, ob überhaupt etwas stattfindet, was ich planen soll. Was mir helfen würde? Klare Aussagen. Konkrete Worte. Kein Interpretationsspielraum. Einfach sagen, was gemeint ist. Während ich das schreibe, denke ich: Ich könnte ein Buch mit meinen Erfahrungen füllen…

Fortsetzung folgt.

Duale Autismus- und Familientherapie und Elterntreff bei Zephir gGmbH

Zephir gGmbH bietet für Kinder im Autismus-Spektrum und ihre Eltern/Angehörigen eine „Duale Autismus- und Familientherapie“. Alle sechs bis acht Wochen veranstalten wir außerdem einen „Elterntreff“, bei dem sich Eltern/Angehörige von Kindern im Autismus-Spektrum untereinander austauschen und gegenseitig unterstützen können. Sprechen Sie uns bei Interesse gerne an.

Ansprechpartnerin:
Miriam Vogt (Bereichsleitung), Tel.: 0159 – 06 14 52 81 oder vogt@zephir-ggmbh.de

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