„Gegensatz – gegen mich selbst“ – Stationen einer Jugend in der Nachwendezeit
Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre wusste man noch wenig über Neurodiversität. Kinder, die sich in Kindergarten und Schule anders verhielten, als man es erwartete, blieben oft allein oder wurden sogar in Sonderschulen abgeschoben. Bei den betroffenen jungen Menschen mit neurobiologisch bedingten Wahrnehmungsbesonderheiten wie ADHS oder Autismus prägen sich oft Ereignisse und Erfahrungen aus ihrer Jugendzeit ein, die sie ein Leben lang begleiten. Sie können positiv wie negativ sein, für Wohlbefinden oder massiven Druck sorgen. Auf jeden Fall aber bestimmen sie nachhaltig die Gefühlswelt, das Verhalten und das Leben des neurodivergenten Menschen – mit ganz unterschiedlichen, individuellen Folgen.
Ein Leben unter Anpassungsdruck
Sie lernen schnell, dass sie als „besonders“ wahrgenommen werden. Sie finden heraus, mit welchem Verhalten sie Anerkennung bekommen, mit welchem sie ignoriert oder abgelehnt werden. Sie beobachten die Menschen in ihrer Umgebung genau und ahmen ihr Verhalten nach, um zu gefallen oder nicht aufzufallen. Das Leben wird quasi zur Theaterbühne, auf der sie Rollen spielen. Der Applaus ist soziale Akzeptanz. Der Preis: Sie können und dürfen nicht sie selbst sein. Maskieren und Aushalten wird zur Überlebensstrategie.
Wer bin ich?
Im Innern entsteht durch die ständige Anpassung und ein Leben mit gegensätzlichen Persönlichkeitsanteilen mehr und mehr Anspannung und Stress. Viele Fragen bleiben ohne Antwort: Wer bin ich, wo gehöre ich hin? Warum darf/kann ich mich nicht zeigen? Wer liebt mich so, wie ich bin? Wer versteht mich? Eine immense psychische Belastung, denn ihr sensibles Wahrnehmen und Erleben bleiben auch im Erwachsenenalter bestehen.
Eine Jugend mit Autismus und ADHS
Uns erreichte der sehr persönliche Text einer heute erwachsenen Frau, die in der ehemaligen DDR aufgewachsen ist. Ihre Erfahrungen und Erlebnisse als nicht diagnostiziertes neurodivergentes Kind und Heranwachsende schildert sie sehr authentisch, offen und berührend:
Als neurodivergente Person in der DDR aufzuwachsen, brachte mich dazu, mich so zu verhalten und zu zeigen, wie es von mir verlangt wurde. Diese Anpassung entwickelte sich über viele Jahre hinweg, bis ich im Alter von 40 Jahren nicht mehr konnte.
Fremd unter Gleichaltrigen
Bereits im Kindergarten fühlte ich mich fremd unter den vielen Kindern. Grundsätzlich wollte ich dort nie hin und wartete am liebsten oben auf dem kegelförmigen Klettergerüst mit den acht Ringen darauf, dass meine Mutter mich abholen würde. Es gab Mädchen und Jungen, die miteinander spielten und sich austauschten. Ich versuchte, mit ihnen in Kommunikation zu treten, doch mein stark ausgeprägtes ADHS in Kombination mit meinem Autismus ließ mich stets zwischen zwei Seiten hin- und hergerissen sein. Egal, wie sehr ich es versuchte, es war, als würde ich eine völlig andere Sprache sprechen. Es fühlte sich an, als stünden die anderen Kinder auf der einen Seite und ich wäre nur zu Besuch von einem anderen Planeten. Wir sahen uns zwar ähnlich, aber wir verstanden uns nicht. Einerseits wollte ich dazugehören, andererseits interessierten mich die anderen Kinder eigentlich gar nicht.
Schon damals beschäftigte ich mich am liebsten kreativ – ich malte, bastelte und saß unter dem Küchentisch, wenn meine Mutter Mittagsschlaf machte, um Kreuzworträtsel oder Knobelaufgaben zu lösen. Außerdem spielte ich mit sieben Jahren sehr gerne Schach mit meinem Vater. Wenn ich zu Kindergeburtstagen eingeladen wurde, versuchte ich, die anderen zu imitieren und mitzuspielen. So begann ich, mein Umfeld zu beobachten und nachzuahmen. Ich schaute, was die anderen taten, was sie mochten und wofür sie sich interessierten.
Albtraum Schule
Die Einschulung wurde für mich zum Albtraum. Alle anderen freuten sich auf diesen Tag – ich nicht. Alle Mädchen kamen in rosa oder hellblauen Kleidern mit Tüll und dazu passenden Riemchenschuhen. Es war 1990, die DDR längst Geschichte, zumindest auf dem Papier. Mein erster Schultag fiel auf einen warmen Sommertag, und ich wollte – sehr zum Leidwesen meiner Mutter – auf keinen Fall ein Kleid tragen. Also gingen wir in den örtlichen Kindermodelladen, und ich suchte mir einen Nadelstreifenanzug, eine Fliege und schwarze Lackschuhe aus. Natürlich steigerte das nicht meine Freude auf diesen Tag, aber wenigstens durfte ich tragen, was mir gefiel. Schon damals mochte ich dank meiner Großeltern die „alte“ Zeit.
Mein Großvater wurde sonntags von meiner Oma gebadet. Dafür musste zuvor der Badeofen geheizt und aus dem Gewölbekeller Holz und Kohle hochgeholt werden. Ich saß gern auf dem Boden im Arbeitszimmer und kämmte die Fransen der Teppiche. Während meine Großmutter sehr streng war, war mein Großvater umso herzlicher. Im Fernsehen liefen ausschließlich politische Sendungen oder alte deutsche Filme, und morgens hörten wir Deutschlandfunk. Dabei saß stets ein Wellensittich auf meiner Schulter und frühstückte mit mir. In dieser Umgebung fühlte ich mich wohl – aber nicht mit 32 anderen Kindern eingesperrt in einem Klassenzimmer.
„Kloppischule“ für Kinder, die nicht passten
Der Unterricht begann, die Einschulung und das schreckliche Gruppenfoto waren überstanden. In der ehemaligen DDR gab es keine Diagnosen für Autismus oder ADHS. Kinder, die auffällig wurden und nicht ins System passten, wurden entfernt. Das erlebte ich bereits kurz nach meinem Schulstart bei einem Mitschüler. Es gab einen Jungen in meiner Klasse, dem es noch schwerer fiel als mir, beim Thema zu bleiben und sich sozial angemessen zu verhalten. Nach zwei Wochen wurde er von der Schule verwiesen und kam auf eine Förderschule – eine Schule, die damals auch von den Lehrern (!) abwertend als „Kloppischule“ bezeichnet wurde.
Keine Rücksicht – auch nicht beim Essen
Bildung interessierte mich, aber nicht in diesem Umfeld. Die Klassenzimmer rochen seltsam, das Licht der DDR-Neonröhren tat in den Augen weh, und ich konnte mich kaum bewegen. Wie schon im Kindergarten war ich der Kantine und dem Schulessen ausgeliefert. Besonders traumatisch blieb mir eine grüne Bohnensuppe in Erinnerung, die ich unter Zwang essen musste. Die Kindergärtnerin stand damals neben mir und wartete, bis ich aufgegessen hatte – obwohl ich nicht wollte. Die Konsistenz war für mich unerträglich: rau an der Oberfläche, schleimig im Inneren. Seitdem esse ich keine Sahne – sie fühlt sich für mich genauso schleimig an. Auf solche Empfindlichkeiten wurde jedoch nie Rücksicht genommen. Oft versuchte ich, das Essen zu umgehen, und später, als ich älter wurde, aß ich einfach gar nichts.
Mobbing statt Freunde
Mir wurde schnell klar: Ich musste so unauffällig wie möglich sein. Während ich damit beschäftigt war, die anderen Menschen zu beobachten und zu verstehen, was sie meinten, wenn sie nicht eindeutig sprachen, blieb ich meinen Interessen treu. Echte Freunde hatte ich nie – zumindest nicht so, wie die anderen es hatten. Ich hatte eher „Zwangsbekanntschaften“, die sich aus Situationen ergaben, die ein Miteinander erforderten.
Erst in der siebten Klasse lernte ich ein Mädchen kennen, das ich mochte. Sie sprach kaum und lebte, wie ich, in ihrer eigenen Welt. Also lebten wir zusammen, aber jeder für sich in ihrer Welt. Doch hier begann ein massives Mobbing. Aufgrund meiner Interessen, meiner Mitarbeit in Politik und Geschichte, meiner Einstellungen und meines äußeren Erscheinungsbildes wurde ich zur Zielscheibe. Das Mobbing wurde irgendwann so schlimm, dass ich viermal die Schule wechseln musste.
Anpassung, um welchen Preis?
Damals, mit 14 Jahren, wollte ich ein Buch schreiben mit dem Titel „Gegensatz – gegen mich selbst“. Denn so sehr ich mich über bestimmte Themen austauschen, mich weiterbilden und klassische Musik genießen wollte, so sehr brauchte ich auch Zeit für mich allein – ohne dass ich andere unterhalten oder „performen“ musste. Obwohl ich alles versuchte, um so zu sein wie die anderen, gelang es mir nicht…
Fortsetzung folgt.
Duale Autismus- und Familientherapie und Elterntreff bei Zephir gGmbH
Zephir gGmbH bietet für Kinder im Autismus-Spektrum und ihre Eltern/Angehörigen eine „Duale Autismus- und Familientherapie“. Alle sechs bis acht Wochen veranstalten wir außerdem einen „Elterntreff“, bei dem sich Eltern/Angehörige von Kindern im Autismus-Spektrum untereinander austauschen und gegenseitig unterstützen können. Sprechen Sie uns bei Interesse gerne an.
Ansprechpartnerin:
Miriam Vogt (Bereichsleitung), Tel.: 0159 – 06 14 52 81 oder vogt@zephir-ggmbh.de
Unsere Arbeit wird gefördert durch die Berliner Jugendämter.
