Aktuelles

Leben mit Hypo- und Hypersensibilität

Grafik "Autismus er-leben"

Leben zwischen Extremen: Hyper- und Hyposensibilität im Alltag

Ein junger Mensch, der scheinbar desorientiert umherläuft. Ein Kind, das Gegenstände beklopft oder anleckt. Ein Mädchen, das eine grell leuchtende Discokugel dicht an ihre Augen hält. Ein Junge, der kaum die Körperspannung aufbringen kann, um auf einem Stuhl zu sitzen oder auf Zehenspitzen läuft. Ein junger Mann, der sich die Hände auf die Ohren presst, wo doch die Feuerwehr nur weit in der Ferne zu hören ist. Kinder, die nur wenige ausgewählte Lebensmittel zu sich nehmen.

Hyper- und Hyposensibilität – zwei gegensätzliche Wahrnehmungsphänomene, die das Leben von neurodivergenten Menschen sehr beeinflussen können. Manchmal vereinen sich die beiden Wahrnehmungsbesonderheiten auch gleichzeitig bei einer Person, je nach Reizsituation und -intensität.

Alltag zwischen Herausforderung und Anpassung

Wir alle erleben unterschiedliche Reize jeden Tag und haben Strategien entwickelt, mit ihnen umzugehen. Die Reizwahrnehmung und -verarbeitung läuft bei jedem ganz individuell. Als stark kognitiv orientierte Menschen blenden wir häufig Reize aus, filtern, ignorieren oder tolerieren sie auf unsere Weise, um im Alltag weiter zu funktionieren. Erschöpfung und ein Bedürfnis nach Ruhe zeigen dann am Abend, wie herausfordernd der Tag gewesen ist.

Menschen im Autismus-Spektrum sind in ihrer sensorischen Wahrnehmung oft hypo- und/oder hypersensibel. Das bedeutet, dass sie sich ständig zwischen Beängstigung und Wohlgefühl bzw. Über- und Unterforderung ausbalancieren müssen. Anna, 9 Jahre alt, kann z.B. das Gefühl von bestimmten Stoffen auf ihrer Haut nicht ertragen, schon gar nicht am Kopf. Mützen erzeugen für sie zu viel Druck. Ihre Eltern müssen ihre Kleidung deshalb sorgfältig auswählen, damit sie sich wohlfühlt. Auch den süßlichen Geruch von Weichspüler in der Wäsche mag sie gar nicht. Ihre Haut und ihr Geruchssinn sind hypersensibel.

Ihr Klassenkamerad Tim hingegen spürt Berührungen kaum. Seine Hyposensibilität sorgt dafür, dass er Reize nur gedämpft wahrnimmt. Im Sportunterricht fällt er häufig hin, ohne die Verletzung zu bemerken. Er kann seine Körpergrenzen einfach nicht ausreichend wahrnehmen. Er beginnt dann seine Unterarme zu kratzen, um sich irgendwie spüren zu können.

Strategien für den Alltag finden

Hyper- und Hyposensibilität sind keine neurologischen Krankheiten, sondern individuelle Unterschiede in der Reizverarbeitung bzw. sensorischen Integration. Während Hyposensible oft nach stärkeren Reizen suchen, um eine ausreichende Wahrnehmung zu erleben, müssen Hypersensible Wege finden, sich vor Reizüberflutung zu schützen.

Dabei gibt es ganz individuelle Strategien, um mit einer besonderen Wahrnehmung umzugehen. Für Hypersensible können das z.B. geräuschdämpfende Kopfhörer, Sonnenbrillen, eine weiche Decke oder ruhige Rückzugsorte sein. Hyposensible dagegen brauchen stärkere Reize, um ihre Wahrnehmung zu intensivieren – etwa kräftige Berührungen (Massagen), intensive Bewegungseinheiten, würzige Speisen oder laute Musik mit intensivem Bass. Die jeweilige Strategie führt im besten Falle zu einer großen Erleichterung und Entlastung in dieser für wahrnehmungssensible Menschen sehr stressigen Welt.

Tipps für Eltern und Betreuungspersonen


Gehen Sie nicht von sich und Ihrer Wahrnehmung aus. Ihr hypo-/hypersensibles Kind nimmt Reize ganz anders wahr und verarbeitet sie anders. Akzeptieren Sie dies und versuchen Sie, die Verhaltensweisen vor diesem Hintergrund zu verstehen. Denn oft wird Verhalten als unangemessen, störend oder gar Provokation aufgefasst. Das ist es nicht. Ihr Kind kann sich gerade nicht anders verhalten, wenn es sich und seine Umwelt ganz anders wahrnimmt. Erwarten Sie nicht, dass Ignorieren oder eine einfache Aufforderung zum Aushalten zum Erfolg führen. Versuchen Sie nicht, am Verhalten, sondern an den Ursachen anzusetzen. Sie kennen Ihr Kind am besten! Wenn sie wissen, welche Trigger zu einer Überlastung führen können, versuchen Sie die Situationen – wenn möglich – zu vermeiden.

Unterstützen Sie Ihr Kind, einen Ausweg zu finden. Überlegen Sie gemeinsam, was helfen könnte. Wenn Ihr Kind (noch) keine Lösung weiß, bieten Sie ihm etwas an. Auf neue Situationen können Sie sich und Ihr Kind auch vorbereiten. Oft ist es hilfreich, das zu Erwartende, vorher zu visualisieren. Vielleicht können Sie einen Gegenstand mitnehmen, der auch schon in der Vergangenheit hilfreich war. Oder Sie planen von vornherein mehr Zeit und Ruhepausen ein. Informieren Sie auch Lehrer:innen und andere Betreuungspersonen über die Wahrnehmungsbesonderheiten. Mit etwas gutem Willen lassen sich auch in der Schule Lösungen finden, die hyper- und/oder hyposensiblen Menschen das Leben leichter machen.

Mehr zum Thema und weitere Anregungen zum Umgang mit Hypo- und Hypersensibilität finden Sie im Video von Miriam Vogt, Bereichsleiterin „Duale Autismus- und Familientherapie“ bei Zephir gGmbH.

Duale Autismus- und Familientherapie und Elterntreff bei Zephir gGmbH

Zephir gGmbH bietet für Kinder im Autismus-Spektrum und ihre Eltern/Angehörigen eine „Duale Autismus- und Familientherapie“. Alle sechs bis acht Wochen veranstalten wir außerdem einen „Elterntreff“, bei dem sich Eltern/Angehörige von Kindern im Autismus-Spektrum untereinander austauschen und gegenseitig unterstützen können. Sprechen Sie uns bei Interesse gerne an.

Ansprechpartnerin:
Miriam Vogt (Bereichsleitung), Tel.: 0159 – 06 14 52 81 oder vogt@zephir-ggmbh.de

Unsere Arbeit wird gefördert durch die Berliner Jugendämter.