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Vom Leben im System überfordert

Grafik "Autismus er-leben"

Überforderung durch starres System und Weltgeschehen

Gedanken eines jungen Menschen aus dem Autismus-Spektrum zu einer sich verändernden Welt

Unsere Welt ist nicht einfach. Sie verändert sich nach vom Menschen geschaffenen Regeln und Gesetzen, die wir nicht (mehr) oder nur in geringem Maße beeinflussen können. Politische und wirtschaftliche Interessen, Besitz und Macht bestimmen das Geschehen auf unserer Erde, der Klimawandel wird zur globalen Bedrohung. Ein Szenario, das auf jeden Einzelnen sehr unterschiedlich wirkt.

Manch einer mag das persönliche Unwohlsein verdrängen, nichts tun und einfach weiterleben. Ein anderer wird aufstehen, sich engagieren, um etwas zu verändern. Menschen im Autismus-Spektrum, die eine hohe Sensibilität und differenzierte Wahrnehmung besitzen, sind bei den momentanen Entwicklungen in der Gesellschaft besonders gefordert. Sie brauchen häufig länger, um sich auf Neues einzustellen, die Struktur zu erkennen und sich – wie so oft notwendig – anzupassen. Sie empfinden Veränderungen häufiger als bedrohlich, sind schneller überfordert, weil sie viel mehr Energie benötigen, um sich auf eine neue Situation einzustellen. Gleichzeitig verfügen sie über die Fähigkeit, Prozesse und Systeme zu erfassen und Missstände aufzudecken.

Einen Einblick in sein Erleben, seine Gedanken und seine Versuche, mit dem Leben und seinen Herausforderungen als junger Erwachsener im Autismus-Spektrum zurechtzukommen, wird uns von einem jungen Studenten gewährt:

Überfordert

Ich fühle mich überfordert in meinem Leben. Ich sehe die Welt wie sie ist, mit genau der „Zukunft“ vor mir vorbeiziehen, ohne dass meine eigene Zukunft angefangen hat! Ich sehe, wie Gesellschaften auseinandergehen, setze mich mit weltweiten zunehmenden antidemokratischen Tendenzen auseinander – und fühle mich dabei gefangen in der Perspektive des Zuschauers.

Ich sehe den Aufstieg Chinas, den schwindenden europäischen Einfluss in Afrika. Dazu eine zunehmende gesellschaftlichen Spaltung getragen durch soziale Ungleichheit bei Einkommen, Bildung und Chancengleichheit. Ich sehe kein Ende. Und dennoch sehe ich den Klimawandel, ich sehe auf eine Welt, in der wir als Einzelne, als Land oder Kontinent keinen Einfluss mehr haben. Ich sehe weltweite Migration und das jetzige System der sozialen Marktwirtschaft. Ich sehe ein System, das weiter Ungleichheiten fördert, in dem Europa zunehmend an Einfluss verliert. Ich habe Angst vor einer schlechten Zukunft, die auch mein Leben massiv beeinflussen wird.

Aktiv werden, aber wo und wie?

Ich möchte etwas tun, aber ich kann nicht irgendetwas tun. Kann ich aktiver werden in Form von gesellschaftlichem Handeln? Ich würde es mir wünschen, aber für wen? Wenn ich etwas gegen die jetzige Form der Marktwirtschaft sage, habe ich keine Chance auch nur annähernd in diesem System gehört zu werden. Die Warnung vor dem Einfluss Chinas verschließt mir die Türen zu einigen Institutionen, in denen ich aktiv bin. Die Warnung vor der anhaltenden Migration und deren Einfluss auf die zunehmende Ungleichheit in unserer Gesellschaft, darf man kaum äußern.

Vielleicht passt es nicht, das System. Stattdessen werden diese Warnungen den Leuten von der AfD oder den Trumpisten überlassen, die mit schlechten Lösungen die Demokratie nach und nach abschaffen, vor allem Freiheiten einschränken, auch meine Freiheiten einschränken werden. Ein Prozess der Selbstzerstörung schreitet in Europa voran.

Starres System ohne Veränderung

Ich stehe außen vor. Ich selber habe kaum Institutionen, in denen ich überhaupt aktiv werden kann, zumindest finde ich diese nicht. Weil ich selber auch noch zu oft überfordert bin mit den grundlegendsten Anforderungen, die eine Gesellschaft an mich stellt, um überhaupt in Positionen zu kommen, in denen man seine Meinung äußern kann, etwas verändern kann. So bleibt mir, obwohl die Welt immer schlimmer wird, mich mit den Herausforderungen einer wichtigen Bewerbung, von der viel abhängt, oder denen für einen wichtigen Test auseinanderzusetzen! Strukturen, die nicht für mich geschaffen sind, Strukturen die wohl auch nur schwer zu ändern sind. Und das überfordert mich, auch gerade aufgrund meines Autismus. Ich sehe in letzter Zeit immer weniger Sinn darin, so viel Energie in diesen einen Test zu stecken, um etwas zu erreichen.

Denn wenn die Möglichkeiten dahinter so begrenzt sind, was bleibt dann? Werde ich, wenn ich so weiter mache, einfach nichts verändern? Nichts verändern für Menschen, die unter diesem System leiden? Nicht neurotypisch agieren, gefangen in fest gefahrenen Strukturen? Muss ich mich anpassen, um etwas zu erreichen, oder muss ich das gerade nicht? Etwas zu erreichen versuchen, das man wiederum gar nicht erreichen kann, dies wäre das absurde Ziel.

Mitschwimmen oder nicht

Viele Schritte mehr gehen, immer weiter, um überhaupt Einfluss nehmen zu können. Und dafür muss man sich vermutlich wieder an das System anpassen. Wie sehr möchte ich das? Ich möchte kein Systemsprenger sein, manchmal möchte ich als Autist gar nicht erst auffallen. Und doch weiß ich, dass dieses System nicht für mich geschaffen wurde. Ich werde mitschwimmen können, mit der nächsten Bewerbung, dem nächsten Examen, dem nächsten gesellschaftlichen Event, dem Schweigen zu Ungerechtigkeiten, wenn ich das will! Aber will ich das?

Ich fühle mich verzweifelt und unmotiviert! Und weiß noch weniger, wo ich hinwill. Ich will wieder mehr das Gefühl haben, etwas bewegt zu haben, vielleicht dafür gesorgt zu haben, dass manche Tendenzen aufhaltbar sind, und fühle mich doch zu klein und unbedeutend. Ich muss zu viele Hürden überwinden, um überhaupt einen Schritt zu gehen, und ja, ohne zu wissen, dass es etwas bewirkt!

Ich fühle mich überfordert.

Duale Autismus- und Familientherapie und Elterntreff bei Zephir gGmbH

Zephir gGmbH bietet für Kinder im Autismus-Spektrum und ihre Eltern/Angehörigen eine „Duale Autismus- und Familientherapie“. Alle sechs bis acht Wochen veranstalten wir außerdem einen Elterntreff, bei dem sich Eltern/Angehörige von Kindern im Autismus-Spektrum untereinander austauschen und gegenseitig unterstützen können. Die Termine finden Sie im Kalender. Sprechen Sie uns bei Interesse gerne an.

Ansprechpartnerin:
Miriam Vogt (Bereichsleitung), Tel.: 0159 – 06 14 52 81 oder vogt@zephir-ggmbh.de