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Jeder Mensch braucht Freunde!

Grafik "Autismus er-leben"

Menschen aus dem Autismus-Spektrum gelten oftmals als emotional zurückhaltend, als Einzelgänger, die sich von anderen zurückziehen und lieber für sich bleiben. Ihre Emotionen sind dann für Außenstehende schwer lesbar. Bei scheinbar plötzlich auftretenden Affekten, also kurzen, intensiven Gefühlslagen, zeigen sich dann die angestauten, intensiv erlebten Emotionen. Vorangegangene Reizüberflutungen, sogenannte Overloads, sind eine häufige Ursache für die emotionale Verfassung. Dazu gehört der „Meltdown“, eine heftige, nicht mehr kontrollierbare Reaktion, die auch mit Selbst- und Fremdgefährdung verbunden sein kann. In diesem Augenblick fehlt Personen aus dem Autismus-Spektrum jede Möglichkeit zur Selbstregulation. Sie können ihr Verhalten einfach nicht mehr steuern. Mitunter schlagen sie um sich, schreien oder verletzen sich selbst. Ihr Nervensystem ist überstimuliert und sucht sich ein Ventil.

Besonders bei Freundschaften sind Emotionen jedoch von großer Bedeutung. Liebe, Angst, Wut, Verzweiflung, Freude, Glück sind immer dabei, wenn wir Beziehungen zu anderen eingehen. Für Menschen im Autismus-Spektrum wird dieses menschliche Ur-Bedürfnis zum Balanceakt. Die Mutter eines jetzt fast erwachsenen Sohnes schildert, wie ihr Sohn zunächst keine Freunde brauchte, die ersten Jahre mit sich allein zufrieden war. Je älter er wurde, desto mehr veränderte sich sein Verhalten. Er sucht Freunde und gestaltet die Beziehungen auf seine ganz individuelle Weise.

Mein autistisches Kind braucht Freunde!

Schon als mein Sohn klein war, interessierten ihn in einem Raum die Steckdosen und nicht die Menschen. Bei Filmen entdeckte er Veränderungen in der Kulisse, aber hatte keine Ahnung von der Handlung und den Personen. Auf Ansprache reagierte er oft nicht und kurze Interaktionen mit anderen Kindern beendete er nach kurzer Zeit unvermittelt und ohne ein Wort, weil ihn dann was anderes interessierte. Er hat nie Mama gerufen, wenn er nicht schlafen konnte, sondern lag zufrieden mit sich im Bett. Nie imitierte er das Spielverhalten seines Bruders, aber die verschiedenen Blinkergeräusche eines Busses konnte er imitieren bevor er auch nur ein Wort sprechen konnte.

Bei Verletzungen oder Traurigkeit weint er bis heute nicht und sucht auch nicht Trost durch Zuwendung. Jetzt ist er fast erwachsen und noch nie hat ein Familienmitglied von ihm eine aktive Umarmung bekommen. Er bestätigt damit alle Vorurteile. Autisten brauchen keine anderen Menschen!

Brauchen Autisten wirklich keine anderen Menschen?

Schon im Kindergartenalter war er voller Freude und Aufregung, wenn er Besuch von anderen Kindern bekam. Eines der ersten Worte war seine Bezeichnung für seinen Bruder „Meiner“. Wenn um ihn herum andere Kinder und Erwachsene fröhlich waren, konnte ihn dies anstecken. Als ihn in der Grundschule Kinder ärgerten, indem sie ihm versprachen, dass er ihr Freund wird, wenn er sich in eine Matschpfütze setzt, setzte er sich in den Schlamm….

Auf der Suche nach Kontakt und Gemeinschaft

In der sehr familiären Gemeinschaft der Kleinklasse in der Förderschule blühte er auf. Er war superstolz, zum Chor zu gehören. Als er einen Mitschüler fand, der auch ein BVG-Fan war, konnte er ganze Hofpausen gemeinsam mit diesem Fahrpläne aufschreiben und Quatsch machen. Wenn sein Bruder Spielbesuch bekam, glühte er vor Begeisterung, wenn er kurz dabei sein durfte. Jeder Schulfreund seines Bruders wurde auch von ihm aufgeregt erwartet. Im Teenageralter konnte er stundenlang und in tausendfacher Wiederholung die Lehrer zum Thema „Verliebtsein“ interviewen. Als ihn ein Mädchen interessiert, hüpfte er vor Aufregung wie ein Flummi, als er entdeckte, dass er rot wird, wenn er ihr begegnet. Als sie in ein anderes Land zog, war er auf unsere Familie wütend, weil wir dieses Land nicht für unseren Urlaub wählten. Familienurlaube wurden unattraktiv.

Der Wunsch nach Freundschaft kann überfordern

Um Reisen mit Jugendgruppe zu bewältigen, tolerierte er mehr Reize, als wir es für möglich gehalten hatten. Er schrieb noch wochenlang an Mitfahrer, auch wenn diese nie antworteten. Wiederholt beschäftigte ihn das „Vermiss-Gefühl“. Die ersten WhatsApp-Freunde waren sein ganzer Stolz. Ein großer Wunsch war, „mit einem Kumpel allein unterwegs sein“.

Seit 2 ½ Jahren schreibt er jeden (!) Abend seinem großen Bruder eine Nachricht, seitdem dieser auszog. Auch wenn er Trennungen und Verluste nie kommentiert und keine Trauer zeigt, überrascht er doch immer wieder mit kleinen Bemerkungen, die unvermutet eine echte und lange fortbestehende Bindung zeigen. Bei einem Familienfest bei Freunden führte sein Wunsch, mit anderen Jugendlichen beisammenzustehen und zu reden, zu großer Hilflosigkeit und Überforderung. Erstmals nach sehr langer Pause erlebten wir wieder einen heftigen Melt-Down.

Mein autistisches Kind hat schon immer – wie fast alle Menschen – einen heftigen Wunsch nach sozialer Zugehörigkeit, Kontakt und Nähe. Aber seine Beziehungssprache ist eine andere als die der meisten Menschen. Er braucht nur sehr kurz Zweierinteraktionen, liebt es aber, in einer Gemeinschaft zu sein, wo er viele dieser kurzen Kontakte sowie Rückzug frei gestalten kann und trotzdem dazugehört. Ein Gespräch ist für ihn eine Aneinanderreihung von Fragen, da das Hin-und-Her normaler Gespräche ihn überfordert und ihm das Denken und Fühlen des Gegenübers auch nicht präsent ist. Gemeinsam ein Interessensgebiet zu teilen, ermöglicht ihm Nähe. Seine Art von Umarmung ist, sich mit Körperkontakt daneben zu setzen oder eine kurze Kopf-an-Kopf-Berührung.

Beziehung, Liebe, Schmerz

Seit Beginn der Pubertät versucht er mit sehr viel Anstrengung, soziale Beziehungen zu verstehen und auch zunehmend bewusster zu gestalten. Auch als Jugendlicher aus dem autistischen Spektrum verliebt er sich, freut sich über Freunde und Gemeinschaft und leidet bei Verlust von wichtigen Personen! Es schmerzt uns immer wieder mitzuerleben, wie seine autistischen Besonderheiten ihn behindern, sich seinen Wunsch nach Freunden und Liebe zu erfüllen. Um glücklich zu sein, braucht er Beziehungen zu anderen Menschen.

Wir sind sehr froh, dass er in der Therapie lernen kann, die soziale Welt zu entdecken und zu verstehen und Fertigkeiten dafür zu entwickeln.

Duale Autismus- und Familientherapie und Elterntreff bei Zephir gGmbH

Zephir gGmbH bietet für Kinder im Autismus-Spektrum und ihre Eltern/Angehörigen eine „Duale Autismus- und Familientherapie“. Alle sechs bis acht Wochen veranstalten wir außerdem einen Elterntreff, bei dem sich Eltern/Angehörige von Kindern im Autismus-Spektrum untereinander austauschen und gegenseitig unterstützen können. Sprechen Sie uns bei Interesse gerne an.

Ansprechpartnerin:
Miriam Vogt (Bereichsleitung), Tel.: 0159 – 06 14 52 81 oder vogt@zephir-ggmbh.de