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Herausforderung, um zu regulieren…

Grafik "Autismus er-leben"

Herausforderndes Verhalten bei Kindern im Autismus-Spektrum

Wir kennen es alle aus eigener Erfahrung: Streit, Ängste, nicht mehr weiterwissen, das Gefühl nicht mehr die Lage zu beherrschen, zu viele Anforderungen gleichzeitig – all das sind stresserzeugende und höchst unangenehme Situationen, die im Alltag zu Überforderung, Verzweiflung und Hilflosigkeit, manchmal sogar Handlungsunfähigkeit führen können. Jeder möchte sie möglichst schnell beenden, wieder Übersicht gewinnen und seinen Stress abbauen.

Alltägliche Situationen können zu viel sein

Für Kinder im Autismus-Spektrum gibt es noch viel häufiger herausfordernde Situationen. Das kann die Begegnung mit neuen Menschen sein, ein aufdringlicher Geruch oder Lärm, zu viel Licht oder das Essen, das nicht zur gewohnten Zeit auf dem Tisch steht oder ganz anders schmeckt. Bestimmte individuelle Trigger und Glaubenssätze/Annahmen spielen zusätzlich eine große Rolle, wenn es um Überforderung oder Stress im Rahmen von Neurodiversität geht. Es gibt viele Gründe für heranwachsende Menschen mit erhöhtem Aufmerksamkeitsumfang, die besonders sensibel und intensiv wahrnehmen und dann heftig auf überfordernde Reize aus dem Umfeld reagieren. Sie werden z.B. ausfallend, aggressiv, schreien, schlagen um sich, verweigern sich, ziehen sich zurück, wiederholen ein bestimmtes Verhalten oder verletzen sich sogar selbst. Im Bereich des Autismus-Spektrums spricht man von sogenanntem „herausfordernden Verhalten“. Nur wen fordert es am meisten heraus?

Wann tritt herausforderndes Verhalten auf?

„Herausforderndes Verhalten“ tritt besonders bei Verunsicherung, Hilflosigkeit und Überforderung auf. Es ist keine Provokation, wovon oft irrtümlicher Weise ausgegangen wird. In diesem Moment fehlt den Kindern meist Struktur, Orientierung und Sicherheit. Sie finden einfach noch keine, aus unserer Sicht „adäquate“ Verhaltensmöglichkeit für sich. Das passiert z.B. dann, wenn eine Situation neu oder unklar ist, die Anforderungen auch. Vielleicht gibt es sogar widersprüchliche Signale. Über- oder Unterforderung, noch nicht erworbene Ausdrucks- und Kommunikationsfähigkeiten, unerfüllte Grundbedürfnisse oder starke Emotionen/Dynamiken in der Umgebung können hier auch Ursachen sein. Es entsteht situativer Stress, der in einem besonderen, für uns ungewöhnlichen Verhalten seinen Ausdruck findet. Es mangelt den Kindern in diesem Augenblick an anderen Strategien der Bewältigung. So suchen sie sich in ihrer Not ihren Weg, um mit der Situation klarzukommen.

Ihr Kind und Sie befinden sich dann gemeinsam in einer extremen Ausnahmesituation, die für beide Seiten eine große Belastung darstellt. Um dann einen Ausweg zu finden, ist es wichtig, die Gründe für diese heftige Reaktion zu verstehen.

Herausfordernde Verhaltensweisen als Regulationsstrategie

Herausforderndes Verhalten ist also eine Reaktion auf konkrete Auslöser und der Versuch des Kindes, eine Situation zu bewältigen sowie sich selbst zu regulieren. Wenn eine Anpassung nicht mehr möglich ist, kann die Überlagerung durch ein scheinbar „unangemessenes“ Verhalten eine Lösung sein. Ihr Kind versucht

  • die Selbstkontrolle zu erhalten bzw. wiederzuerlangen,
  • die unüberschaubare Situation zu vermeiden,
  • Zeit zu gewinnen,
  • Distanz zu schaffen,
  • den Fokus verschieben, sich von unangenehmen Stimuli abzulenken und sich abzuschirmen,
  • Emotionen selbst zu regulieren und sich zu beruhigen,
  • Stress zu reduzieren.

Wie lässt es sich vermeiden?

Wichtig sind unbedingt eine genaue Beobachtung und Analyse der Abläufe, wobei die subjektive Wahrnehmung des Kindes berücksichtigt werden muss. Vielleicht reagiert es empfindlich auf Geräusche oder andere Reize? Welche Trigger und Situationen führen bei Ihrem Kind zum „herausfordernden Verhalten“? Wie viele Situationen hat es heute bereits unbemerkt bewältigt? Vielleicht war eine scheinbar harmlose Ausgangslage der berühmte letzte Tropfen…?

Wichtig: Prävention

Versuchen Sie, ein Muster in Rahmenbedingungen und Reaktionen zu erkennen. Gibt es Anzeichen, gibt es wiederkehrende Auslöser? Außerordentlich wichtig ist der prüfende Blick auf das eigene Verhalten. Wann überfordere ich mein Kind, ohne es zu wollen? Und was braucht Ihr Kind in der Situation eigentlich? Oft spielen auch bestimmte Entwicklungsbedürfnisse eine Rolle: Wie erlebt Ihr Kind bestimmte Momente? Was möchte Ihr Kind Ihnen zeigen, was übt es gerade noch? Was kann es besonders gut, wo ist es noch überfordert? Können Sie evtl. vorhandene Ressourcen nutzen, um gemeinsam einen anderen Weg aus der Situation zu finden? Können Sie Ihrem Kind mit einem alternativen Angebot dabei helfen? Braucht es Erholung, eine Pause und Zeit zur Verarbeitung?

Sie als Eltern und ebenso Angehörige sollten dem Kind das Gefühl vermitteln, es in seiner Verzweiflung und Unsicherheit anzunehmen und ihm wieder Struktur und Sicherheit geben. Es trägt schließlich keine Verantwortung für Gefühle wie Stress oder Überforderung. Lehrer:innen, Erzieher:innen und andere Personen aus dem Umfeld Ihres Kindes sollten informiert und mit einbezogen werden, um die Bereitschaft zur Inklusion zu erhöhen. Abstimmung und gemeinsames Vorgehen helfen Ihnen und Ihrem Kind. Fordern Sie Unterstützung ein!

Erste-Hilfe in der Eskalation

Wenn möglich, verlassen Sie mit Ihrem Kind die Situation und bieten Sie ihm einen temporären, ruhigen, abgeschirmten Rückzugsort an. Setzen Sie für Ihr Kind beruhigende Reize oder bieten Sie Hilfsmittel („stimming“) zur Selbstregulation an – mit einem Spielzeug oder durch eine gleichmäßige, sich wiederholende Tätigkeit, Bewegung etc. Achten Sie bei sich darauf, dass die Emotionen vom Kind nicht auf Sie selbst überspringen. Bleiben Sie ruhig, klar und eindeutig. Sprechen Sie wie gewohnt und mit normaler Lautstärke. Ihre Stabilität hilft Ihrem Kind.

Vor allem aber: Versuchen Sie gemeinsam mit Fachkräften, Rahmenbedingungen für Ihr Kind zu schaffen, welche Vorhersehbarkeit und Sicherheit bedeuten. Reize zu eliminieren, die individuelle Wahrnehmung und Informationsverarbeitung zu berücksichtigen und Regenerationsmöglichkeiten zu schaffen, kann einen enormen Unterschied für das Erleben Ihres Kindes bedeuten. Diese Rahmen bedeuten Entwicklungspotenzial. Denn: Unter Stress kann sich niemand gut entwickeln.

Weiterführende Informationen

Zum Weiterlesen über Autismus und „herausforderndes Verhalten“ empfehlen wir gerne folgende zwei Bücher:

Bo Hejlskov Elvén (2015): Herausforderndes Verhalten vermeiden. Menschen mit Autismus und psychischen oder geistigen Einschränkungen positives Verhalten ermöglichen. dgvt-Verlag, ISBN 9783871592379

Georg Theunissen (2024): Autismus und herausforderndes Verhalten – Praxisleitfaden Positive Verhaltensunterstützung, Lambertus-Verlag, EAN 9783784137315

Miriam Vogt, Bereichsleiterin der Dualen Autismus- und Familientherapie bei Zephir gGmbH, hat sich in ihrem YouTube-Kanal auch mit dem Thema „Herausforderndes Verhalten“ beschäftigt:

Duale Autismus- und Familientherapie und Elterntreff bei Zephir gGmbH

Zephir gGmbH bietet für Kinder im Autismus-Spektrum und ihre Eltern/Angehörigen eine „Duale Autismus- und Familientherapie“. Alle sechs bis acht Wochen veranstalten wir außerdem einen Elterntreff, bei dem sich Eltern/Angehörige von Kindern im Autismus-Spektrum untereinander austauschen und gegenseitig unterstützen können. Sprechen Sie uns bei Interesse gerne an.

Ansprechpartnerin:
Miriam Vogt (Bereichsleitung), Tel.: 0159 – 06 14 52 81 oder vogt@zephir-ggmbh.de

Unsere Arbeit wird gefördert durch die Berliner Jugendämter.