Alltagshilfe für Eltern und Angehörige mit Kindern im Autismus-Spektrum
Eine Mutter steht mit ihrem Kind an einer Bushaltestelle. Sie warten gemeinsam auf ihren Bus, der jedoch kommt und kommt nicht. Stattdessen füllt sich der Bereich der Haltestelle mit weiteren wartenden Passanten. Es wird immer voller und enger. Das Kind wird unruhig, beginnt mit den Händen zu flattern, im Kreis zu hüpfen und Schnalzgeräusche zu produzieren, um sich zu beruhigen.
Eigentlich ist diese Buslinie sonst zuverlässig und menschenleer. Die Mutter geht immer erst kurz vor Abfahrt zur Haltestelle, um ihrem Kind die Wartezeit zu ersparen. Denn Warten ist eine große Herausforderung. Warum dauert das alles so lange und warum ist es so eng hier? Heute ist alles anders. Die lange Wartezeit und die Enge bedeuten extremen Stress für das Kind.
Zunehmende Überforderung für Eltern und Kind
Die Mutter bemerkt die Unruhe ihres Kindes mit einer Diagnose aus dem Autismus-Spektrum (AS). Sie versucht zu beruhigen, Stimming-Spielzeuge (sensorische, selbststimulierende Spielzeuge zur Stressregulation) anzubieten, abzulenken, Abstand von den Menschen zu gewinnen, alles, was ihr bei der Autismus-Beratung empfohlen wurde. Doch plötzlich wird die Verunsicherung bei ihrem Kind zu groß, Anspannung und Überforderung platzen aus ihm heraus. Es beginnt zu schreien, wirft sich auf den Boden, gerät scheinbar völlig außer Kontrolle.
Die umstehenden Wartenden schauen sich erstaunt um und blicken mitleidig auf Mutter und das scheinbar vor Wut tobende Kind. Da hat wohl eine Mutter ihr Kind nicht im Griff, werden sie denken. Gemurmel entsteht. Eine Frau reagiert und motzt: „Nun mach doch mal nicht so’n Theater hier!“ Die Blicke der Umstehenden sind für Minuten auf das eskalierende Szenario gerichtet. Eine schreckliche Situation für Mutter und Kind.
Solche oder ähnliche Begebenheiten sind Alltag für Familien mit Kindern im Autismus-Spektrum. Wenn Eltern mit ihren Kindern unterwegs sind, sind sie vielen Außenreizen durch Menschenmengen, Stimmengewirr, visuelle Einflüsse etc. ausgesetzt. Vorhersehbarkeit, die Kindern im AS unterstützt, sich sicher in ihrem Umfeld zu bewegen, kann oft nicht hergestellt werden. Manchmal reicht es auch schon, wenn das Lieblingseis eine neue Verpackung hat oder ein gewohnter Weg nicht eingehalten werden kann.
Shutdown oder Meltdown bei Reizüberflutung
Diese Verunsicherung und/oder Reizüberflutung durch eine veränderte Situation führt bei Kindern im Autismus-Spektrum zu einer massiven Belastung, die schnell zur Überlastung mit extremen Auswirkungen werden kann. Sie sind dann nicht mehr in der Lage, ihre Affekte gut zu steuern bzw. zu regulieren. Die akute Überforderung kann zu einem kompletten Ausstieg aus der Situation führen, zu einem „Meltdown“ oder „Shutdown“.
Ein Meltdown erscheint von außen wie ein Wutausbruch. Die Betroffenen werfen sich beispielsweise zu Boden, schreien, schlagen den Kopf irgendwo gegen o.ä. Die Situation ist unkontrollierbar und unerträglich, vor allem für den jungen Menschen selbst. Sie ist Ausdruck seiner Not und der fehlenden Möglichkeit, diese überfordernde Situation zu bewältigen. Ein Shutdown gleicht einer Erschlaffung oder Erstarrung und ist ebenfalls das Resultat von Reizüberflutung. Jene Phänomene sind für die betroffenen Menschen und ihre Angehörigen an sich bereits sehr herausfordernd. Oft mischen sich Passanten ein, meist nicht hilfreich. Da die autismusbedingte, veränderte Wahrnehmung nicht wie bspw. eine körperliche Behinderung sichtbar ist, entsteht leicht der Eindruck, es handele sich um ungezogene Kinder oder erziehungsunfähige Eltern. Dieser Stress und Fehleinschätzung durch andere – mit allen Folgen – sind für Eltern bzw. Angehörigen kaum zu ertragen.
Autismus-Kärtchen für den Akutfall
Unsere Autismus-Therapeut:innen suchten nach einer praktikablen Lösung. Sie entwickelten Kärtchen im Visitenkartenformat, die die Eltern/Angehörigen bei Bedarf in der Öffentlichkeit wortlos weiterreichen können, um etwas Entlastung zu erhalten. Ihre Funktion: eine kurze Erklärung zur akuten Situation, verbunden mit der Bitte, sich nicht einzumischen.
Das Verhalten meines Kindes beruht auf seiner Diagnose im AUTISMUS-Spektrum.
Bei Autismus handelt es sich um eine Wahrnehmungsverarbeitungsstörung.
Mein Kind nimmt seine Umwelt viel intensiver wahr als wir und kann die (Sinnes-)Eindrücke nicht immer gut verarbeiten. So kommt es zu Verhaltensweisen, die wie heftige Wutausbrüche wirken.
Wenn ich/wir Unterstützung benötigen, fragen wir direkt. Andernfalls bitten wir Sie, sich zurückzuhalten, da Einmischung die Situation für mein/unser Kind sowie für uns schwieriger macht.
Die Kärtchen haben sich in der Praxis bereits gut bewährt. Die Eltern/Angehörigen tragen die Kärtchen bei sich und können bei Bedarf schnell darauf zugreifen und die Lage ohne weitere Erklärungen zumindest ein wenig entspannen.
Zitat eines Vaters: „Mein Sohn ist geräuschempfindlich und Übergänge jeglicher Art fallen ihm schwer. Manchmal lässt er sich dann einfach fallen. Inzwischen ist er groß, einfach hochheben kann ich ihn nicht. Als er sich in einer Einkaufsstraße wieder fallen ließ und nicht mehr bereit war aufzustehen, geriet ich stark unter Stress – vor allem, weil mehrere Passanten sich einmischten, mir sogar mit Polizei drohten. Ich war kurz davor, die Selbstbeherrschung zu verlieren. Dass ich die Karte griffbereit hatte und die Situation ohne Worte deeskalieren konnte, war total hilfreich.“
Weitere Unterstützungsangebote
Außerdem bieten wir den Eltern/Angehörigen von Kindern im Autismus-Spektrum zum Austausch und gegenseitiger Unterstützung einen „Elterntreff Autismus“ an, der in regelmäßigen Abständen in unserem Therapiezentrum im Oberhofer Weg 4 in Lichterfelde-Ost stattfindet.
Ansprechpartnerin:
Miriam Vogt, Tel. 0159 – 06 14 52 81
vogt@zephir-ggmbh.de
Weitere Informationen zu unserer Dualen Autismus-Therapie und Beratung finden Sie hier.
Unsere Arbeit wird gefördert durch die Berliner Jugendämter.