Wenn das Gehirn zu viel sieht, hört und fühlt
Menschen im Autismus-Spektrum erleben die Welt oft intensiver, fragmentierter und chaotischer. Neurowissenschaftlich zeigt sich: Ihr Gehirn ist übermäßig vernetzt, Nervenzellen reagieren stärker und länger auf Reize. Das dadurch ausgelöste „Feuerwerk“ im Gehirn führt dazu, dass z.B. Geräusche, Licht, Gerüche oder Berührungen mindestens doppelt so intensiv unter hohem Energieaufwand verarbeitet werden.
Reizüberflutung: Wenn jeder Eindruck gleich wichtig ist
Wahrnehmung für Menschen im Autismus-Spektrum bedeutet: Das Gehirn filtert Reize weniger als bei neurotypischen Menschen. Meistens werden sehr viele Reize auf allen Kanälen wahrgenommen. Dabei gibt es keinen „Autofokus“, keine automatische Priorisierung zwischen wichtig und unwichtig. Alle Reize bzw. Informationen kommen gleichzeitig und gleich stark an, unfassbar stark, betäubend, verstörend, aversiv (mit Ablehnung verbunden). Alles verschwimmt. Besonders in großen Gruppen, Klassenzimmern oder Supermärkten kann dies schnell zur Überforderung führen.
„Wenn ich keinen Gehörschutz tragen möchte, dann ist die Welt zu leise, wenn ich ihn tragen möchte, dann ist Tinitus.“
Mögliche Wahrnehmungsbesonderheiten bei Menschen im Autismus-Spektrum
- Geringe Geräuschtoleranz (Misophonie)
- Stimmen können aus den akustischen Reizen nicht herausgefiltert werden
- Detaillierte Erinnerungen im Übermaß
- Verzögerte Reaktionen auf Grund aufwendigerer Verarbeitungszeit
- Introvertiertheit, in sich gekehrt sein als Reizabwehr
- Zwischenmenschliche Codes werden nicht (wie vermittelt) erkannt
- Materialien auf der Haut werden nicht ertragen
- Wenig oder gar keine Reaktion auf einen heftigen Sturz
Stress, Angst, Panik, ein insgesamt erhöhtes Erregungsniveau und massiver Kontrollverlust sind die Folge. Die Reaktion darauf ist individuell: Rückzug, Vermeidung, verschiedene Formen impulsiven, übergriffigen Verhaltens, Stimming, motorische Unruhe, fehlende Ansprechbarkeit, Erstarren (Shutdown) etc.
Sensorische Überlastung ist mit einer hohen Sensibilität (sensory sensitivity) gegenüber Reizen verbunden, sensorische Unterforderung mit einem Ausblenden von Reizen, evtl. auch mit einer Reizsuche (sensory seeking) bis hin zu selbstverletzendem Verhalten.
Einige erleben beides – Überempfindlichkeit (Hypersensitivität, intensive Wahrnehmung) oder Unterempfindlichkeit (Hyposensitivität, geringe Wahrnehmung) – je nach Tagesform oder Entwicklungsstand. In einer fremden Umgebung sind die Anforderungen besonders hoch. Alles ist neu und muss schnell erfasst werden, um sich zu orientieren und adäquat anpassen zu können. Was für eine Herausforderung!
Detailwahrnehmung statt Gesamtbild
Ein zentrales Merkmal ist der erweiterte Aufmerksamkeitsumfang: Menschen im Autismus-Spektrum nehmen viel mehr wahr, als neurotypische Menschen. Dabei liegt der Fokus oft auf Details, die stärker wahrgenommen werden, als das große Ganze. Die Leistungsfähigkeit des Gehirns ist also nicht eingeschränkt, sondern es ist hyperaktiv, hyperaufmerksam, hyperemotional, hyperfokussiert, hyperselektiv, hyperplastisch! Durch die erhöhte neuronale Reaktivität und Plastizität ist das Gehirn fortwährend mit Anpassungs- bzw. Umstrukturierungsprozessen beschäftigt – und dies gleichzeitig in mehreren Gehirnregionen. Es entstehen also ständig neue neuronale Verknüpfungen, eine unfassbare Leistung und Anstrengung.
„Wenn ich dir in die Augen schaue, höre ich nicht mehr, was du sagst.“
Das Gehirn hat Schwierigkeiten, die vielen einzelnen Elemente zu einem Gesamtbild zusammenzufügen, was auch Einfluss auf Kommunikation und Interaktion hat. Teilweise gibt es Probleme bei der Wiedererkennung. Oft fehlt auch ein System, eine Gliederung – ein Problem der zentralen Kohärenz, die bei neurotypischen Menschen ganz automatisch passiert. Fehlt das Gesamtbild durch die Verknüpfung der einzelnen Wahrnehmungsaspekte, bleiben Situationen fragmentiert und lösen Verunsicherung aus. Um hier einen Ausgleich zu finden, halten Menschen im Autismus-Spektrum oft an Routinen fest, sind wenig flexibel und tolerant gegenüber Abweichungen. Stattdessen fixieren sie ihre Erwartungshaltungen, um wieder Sicherheit zu erlangen.
Sensorische Integration
Erst die „Sensorische Integration“, also die Verarbeitung und Strukturierung von Sinnesreizen, ermöglicht eine angemessene Reaktion. Durch diese vernetzte Verarbeitung im Gehirn ist Lernen und Entwicklung möglich. Reize können dann besser gefiltert werden und es wird leichter, sich auf bestimmte Aufgaben zu konzentrieren.
Hinweise auf eine Beeinträchtigung der sensorischen Integration können sein:
- besonders hohes oder niedriges Aktivitätslevel
- schwaches Körperbewusstsein
- sozial-emotionale Schwierigkeiten
- geringe Aufmerksamkeitsspanne
- verzögerte Reaktionen
- Sprachverzögerung
- stereotypes Verhalten
- beeinträchtigte Handlungsplanung
- schwach ausgeprägte Selbstfürsorge etc.
Verarbeitung sensorischer Signale
Im Folgenden einige Beispiele, wie Sinnesreize von Menschen im Autismus-Spektrum wahrgenommen werden können:
Sehen
Licht erscheint sehr grell, Objekte verzerrt oder springend. Manche sehen Details überdeutlich, aber das Gesamtbild verschwimmt. Andere erkennen Tiefen nicht richtig und wirken ungeschickt.
„Man sieht alles auf einmal, alles ist so verworren. Man braucht so lange, um sich zu sortieren und um sich zu erinnern, was was ist.“
Hören
Geräusche (z.B. ein Martinshorn) können sehr intensiv wie durch einen Verstärker wahrgenommen werden. Hintergrundgeräusche (z.B. in einem Café) lassen sich kaum ausblenden – Gespräche in einer lauten Umgebung sind schwer möglich. Umgekehrt kann eine Unterempfindlichkeit dazu führen, dass bestimmt Geräusche gar nicht wahrgenommen werden.
„Ich mag Wörter als Geräusche und Formen. Aber gesprochene Wörter rutschen mir weg, taumeln wie Wolken am windigen Himmel.“
Berührungen und Körperempfinden
Leichte Berührungen können schmerzhaft sein, während starke Umarmungen beruhigend wirken.
„Umarmen ist: Knochen wurden auf Kleider abgelegt.“
Schmerzempfinden, Wärme, Druck oder Hunger werden oft anders oder verzögert gespürt. Auch Gleichgewichtssinn und Körperwahrnehmung (Propriozeption) können betroffen sein – das führt zu Unsicherheit in Bewegungen oder dem Bedürfnis zu schaukeln, sich zu drücken, um sich zu spüren. Bei Hyposensitivität werden selbst große Schmerzen, z.B. durch eine Verletzung, nicht wahrgenommen.
Riechen
Gerüche werden intensiv wahrgenommen (Parfums, Essensdüfte, Reinigungsmittel), genauso können sie von Hyposensiblen auch als angenehm empfunden werden. Sie dienen außerdem als Orientierung bzw. Möglichkeit zur Wiedererkennung.
Schmecken
Oft werden bestimmte Geschmacksrichtungen bevorzugt, was mitunter zu einer einseitigen Ernährungsweise führt. Aber auch die Konsistenz von Nahrungsmitteln kann eine große Rolle spielen: zu hart, zu schleimig, zu ölig, zu körnig etc. Unbekannte Nahrungsmittel werden oft abgelehnt. Bei Hyposensiblen wird das Hungerempfinden nicht wahrgenommen oder vernachlässigt.
Fazit: Eine andere, nicht falsche Art zu fühlen
Menschen im Autismus-Spektrum nehmen ihre Umgebung auf eine andere Art wahr. Sie können die Welt intensiver, detailreicher, manchmal auch überwältigend erleben. Oder im Gegenteil, Sinneskanäle sind blockiert, nicht aufnahmebereit. Verständnis dafür ist der Schlüssel, um Stress zu reduzieren und reizarme, angepasste Umgebungen für ein entspanntes Miteinander zu schaffen.
Duale Autismus- und Familientherapie und Elterntreff bei Zephir gGmbH
Zephir gGmbH bietet für Kinder im Autismus-Spektrum und ihre Eltern/Angehörigen eine „Duale Autismus- und Familientherapie“. Alle sechs bis acht Wochen veranstalten wir außerdem einen Elterntreff , bei dem sich Eltern/Angehörige von Kindern im Autismus-Spektrum untereinander austauschen und gegenseitig unterstützen können. Sprechen Sie uns bei Interesse gerne an.
Ansprechpartnerin:
Miriam Vogt (Bereichsleitung), Tel.: 0159 – 06 14 52 81 oder vogt@zephir-ggmbh.de
Unsere Arbeit wird gefördert durch die Berliner Jugendämter.