Kassenpiepsen, Werbedurchsagen, grelles Licht – viel Stress im Supermarkt
In Neuseeland fing alles an: Ein Mitarbeiter einer großen Supermarktkette, selbst Vater eines Kindes aus dem Autismus-Spektrum, führte eine „Quiet Hour“ ein. Für 60 Minuten oder sogar länger wird das Licht gedimmt, piepsende Kassen, verkaufsfördernde Musik und Durchsagen verstummen, selbst die klappernden Rollwagen mit Lagerware bleiben in dieser Zeit stehen. Alle Supermarktbesucher werden gebeten, sich möglichst leise zu verhalten und ihre Handys nicht zu benutzen. Menschen mit sensibler Wahrnehmung haben in dieser ruhigeren Atmosphäre eine viel bessere Möglichkeit, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Neben Neuseeland wird das Konzept der Reizreduzierung auch schon in der Schweiz, in England, in Irland und auch schon in einigen Städten in Deutschland umgesetzt.
Eine reduzierte Reizsituation ist besonders für Menschen im Autismus-Spektrum wichtig, aber auch für hochsensible und andere neurodivergente Personen (z.B. mit ADHS). Sie nehmen Reize besonders intensiv, auch aversiv wahr und fühlen sich dadurch gestresst. Eine Reizüberflutung, die bei einem Besuch im Supermarkt alltäglich und kaum vermeidbar ist, kann bei Menschen im Spektrum im schlimmsten Falle sogar zu einem völligen Zusammenbruch, einem sogenannten „Shutdown/Meltdown“, führen.
Es geht nur langsam voran mit der „Stillen Stunde“
Der Bewegung haben sich in den letzten Jahren in Deutschland immer mehr Geschäfte, Serviceeinrichtungen, Bibliotheken etc. angeschlossen, vor allem im Südwesten. 263 Einträge verzeichnet „gemeinsam zusammen e. V.“ auf seiner Seite www.stille-stunde.com – und es werden langsam mehr. Handel und Gewerbetreibenden in der Millionenmetropole Berlin scheinen sich mit der Entscheidung für eine „Stille Stunde“ noch schwer zu tun. In der Hauptstadt ist bisher kein Laden erfasst, lediglich im angrenzenden Speckgürtel gibt es einige wenige Geschäfte, die in Randzeiten eine „Stille Stunde“ etabliert haben.
Die „Stille Stunde“ muss in den einzelnen Läden eingeführt und organisiert werden. Die Bedenken: Evtl. verzögert sich dadurch die Warenverräumung. Ein abgedunkelter Verkaufsraum könnte zudem den Eindruck erwecken, dass geschlossen ist. Dann kommen die Kunden nicht mehr. Das Piepsen an der Kasse gibt Kunden wie Kassierer:innen ein Signal, dass die Ware erfasst wurde. Auch das entfällt zeitlich begrenzt. Das gedämmte Licht könnte für andere Kunden, die nicht mehr so gut sehen, eine zusätzliche Erschwernis beim Einkaufen bedeuten. Die „Stille Stunde“ befindet sich bei vielen noch in der Testphase.
20.10.2025: 2. Tag der nichtsichtbaren Beeinträchtigung
Am 20. Oktober 2025 jährt sich zum ersten Mal der Tag der „nichtsichtbaren Beeinträchtigung“, Anlass für „gemeinsam zusammen e. V“ nochmal für mehr Stille aktiv zu werden. Ziel ist es, „…die invisiblen Barrieren und die Möglichkeiten zum Abbau in der Gesellschaft bekannter zu machen und für jeden zugänglich zu gestalten.“ Wirtschaft und Kommunen werden durch eine umfangreiche Mailing-Aktion aufgefordert, sich mit dem Thema der „invisiblen Barrieren“ auseinanderzusetzen und mehr inklusive Lösungen zu entwickeln.
Und bis dahin: Individuelle Bewältigungsstrategien finden
Das Bewusstsein über Neurodiversität wächst in der Gesellschaft, keine Frage. Aber die Lösungen, die manchmal so einfach scheinen, sind es offenbar nicht. Entweder kosten sie (zu viel) Geld, benötigen organisatorische Vorbereitung, Überzeugungsarbeit, vielleicht sogar Schulungen bei den Beteiligten. Vor allem bedeuten sie Anpassung und Bereitschaft zu Kompromissen von einem überwiegenden Teil der Bevölkerung – und nicht wie üblich von den Betroffenen, die sich sonst immer anpassen müssen. Die Ungleichheit wird hier wieder mal deutlich. Sind wir doch noch nicht so weit? Hat eine veränderte Wahrnehmung als unsichtbare „Behinderung“ nicht gleichermaßen Anspruch auf Barrierefreiheit ebenso wie eine sichtbare „Behinderung“?! Neurodivergenten Menschen bleibt also bedauerlicherweise nichts anderes, als weiter individuelle Lösungen und Kompensationsstrategien zu finden. Für den Einkauf im Supermarkt z.B. Kopfhörer und Sonnenbrillen aufsetzen, Stoßzeiten meiden, strukturiert einkaufen und die Aufenthaltsdauer und -häufigkeit im Geschäft so weit wie möglich minimieren.
Duale Autismus- und Familientherapie und Elterntreff bei Zephir gGmbH
Zephir gGmbH bietet für Kinder im Autismus-Spektrum und ihre Eltern/Angehörigen eine „Duale Autismus- und Familientherapie“. Alle sechs bis acht Wochen veranstalten wir außerdem einen Elterntreff, bei dem sich Eltern/Angehörige von Kindern im Autismus-Spektrum untereinander austauschen und gegenseitig unterstützen können. Sprechen Sie uns bei Interesse gerne an.
Ansprechpartnerin:
Miriam Vogt (Bereichsleitung), Tel.: 0159 – 06 14 52 81 oder vogt@zephir-ggmbh.de
Unsere Arbeit wird gefördert durch die Berliner Jugendämter.