Aktuelles

Sprachlosigkeit – Mutismus

Grafik "Autismus er-leben"

Selektiver Mutismus – es gibt kein Patentrezept

Zuhause erleben die Eltern ein Kind, das munter spricht, seine Sprachfähigkeiten nach und nach entwickelt, nichts scheint auffällig. Doch mit Beginn der Kindergarten- oder Schulzeit zeigt sich das besondere Verhalten: In bestimmten Situationen schweigt das Kind plötzlich, spricht einfach nicht mehr, nicht in der Kindergartengruppe, nicht in seiner Klasse, nicht mit den Erzieher:innen, den Lehrer:innen. Es schweigt, bis es die Situation bzw. die Person wieder verlässt.

Diese Sprachblockade, in der Fachsprache „selektiver Mutismus“, tritt meist im Kindergartenalter zwischen zwei und fünf Jahren erstmalig auf. Man findet Mutismus laut Studien häufiger bei Mädchen als bei Jungen und viermal mehr bei Kindern, die mehrsprachig aufgewachsen sind. Die Auslöser für die Blockade sind immer sehr individuell, jedoch oft mit einer großen Überforderung verbunden. Ausgegangen wird von einer Rede- und Kommunikationsangst, oft in Verbindung mit weiteren Symptomen wie (Ersatz-) Kommunikation durch Gestik und Mimik, fehlendem Augenkontakt, Erstarren, Vermeidung von sozialen Kontakten und Interaktion mit anderen.

Therapeutische Begleitung im System

Mutismus kann Jahre andauern und sollte genau betrachtet und therapeutisch behutsam begleitet werden, damit das Schweigen und die Kontaktschwierigkeiten nicht bestehen bleiben oder weitere Herausforderungen hinzukommen. Dabei sollte nicht nur bei dem betroffenen Menschen angesetzt werden, sondern auch bei den Systemen (z.B. Kita, Schule, Familie, Freundeskreise), in denen sich die Person bewegt. Mutismus kann auch als Reaktion auf belastende Erlebnisse im Außen entstehen, wie bspw. Abwertung, massiver Druckaufbau oder Stress, Mobbing, verunsichernde Signale durch Bezugspersonen.

Folgende Erfahrungen und Erkenntnisse aus dem Alltag mit ihrem mutistischen Sohn berichtete uns eine Mutter…

Zwischen Sorgen, Hilflosigkeit und Liebe

Wie ist es, wenn das eigene Kind verstummt? Was empfindet man, wenn es sich von der Welt immer mehr zurückzieht und man gezwungen ist, dabei zuzusehen, wie es die Brücken zu anderen Menschen Stück für Stück abbricht? Bei mir war es tiefe, alles ausfüllende Hilflosigkeit und die ist bis heute, beinahe drei Jahre später, immer noch vorhanden.

Zu Hause kann mein Sohn stundenlange Vorträge über Themen, die ihn bewegen, halten. Doch in der Schule, bei Ärzten, selbst bei Familienmitgliedern und Freunden schweigt er sich mittlerweile aus. Natürlich habe ich daraufhin das gemacht, worin wir Eltern ziemlich gut sind: die Schuld bei mir gesucht. Habe ich ihn früher vielleicht zu sehr unter Druck gesetzt? Hätte ich ihn damals nicht ermahnen sollen, seine Mitschüler zu grüßen? All diese Dinge. Geholfen hat es nicht – aber wann hat es das je?

Stattdessen mussten und müssen immer noch Konstrukte geschaffen werden, damit er sein Leben so unabhängig wie möglich selbst bewältigen kann. Er braucht unsere Unterstützung. Das kann bedeuten, Lehrpersonen anzuschreiben, die seine Arbeit nicht eingesammelt haben, weil er nicht gesehen wird und nicht auf sich aufmerksam machen kann. Oder mitzuteilen, dass er die Aufgabenstellung für einen Vortrag nicht bekommen hat. Oder vielleicht sogar darauf hinuzweisen, dass das Kind schlicht irgendwo vergessen wurde (Ich wünschte wirklich, Letzteres wäre ein Scherz – aber nein!).

Man wird nicht nur zum Planungsgenie und Multiproblemlöser, sondern auch zum ständigen Übersetzer für sein Kind. Gleichzeitig pocht die permanente Frage im Hinterkopf, ob man ihm zu viel abnimmt und so seinen Rückzug noch fördert. Denn auch darin sind Eltern weltmeisterlich gut, im Sorgen machen. Dazu kommt eine Gesellschaft, die nicht unbedingt positiv auf Menschen reagiert, die von der Norm abweichen und ein Schulsystem, das von uns Eltern viel eigenes Engagement abverlangt und uns immer wieder an unsere Kapazitätsgrenzen bringt.

Mittlerweile habe ich gelernt, zuallererst auf mein Kind und mein Bauchgefühl zu hören und nicht auf all die guten Ratschläge von außen (»Du musst ihn nur zwingen«, »Er braucht Druck« etc.). Denn leider gibt es für unsere Situation kein Patentrezept. Das weiß ich so genau, weil ich sehr lange und verzweifelt danach gesucht habe. Was für den einen Mutisten gilt, muss nicht auf den Nächsten zutreffen. Doch in meinen unzähligen nächtlichen Recherchen habe ich einiges gefunden, das alle mutistischen Kinder und Jugendlichen brauchen: Unterstützung, Zuversicht, Verständnis und ganz viel Liebe. Die bekommt er. Ob unser Weg der richtige ist, weiß ich noch immer nicht. Aber ich werde besser darin, diese Unsicherheit auszuhalten.

Denn wirklich entscheidend ist doch, dass diese eine Brücke nicht einbricht – die zwischen mir und ihm. Und wenn er irgendwann bereit ist, seine anderen Brücken wieder aufzubauen, dann stehe ich an seiner Seite und baue sie mit ihm gemeinsam. Stück für Stück.

Duale Autismus- und Familientherapie und Elterntreff bei Zephir gGmbH

Zephir gGmbH bietet für Kinder im Autismus-Spektrum und ihre Eltern/Angehörigen eine „Duale Autismus- und Familientherapie“. Alle sechs bis acht Wochen veranstalten wir außerdem einen „Elterntreff“, bei dem sich Eltern/Angehörige von Kindern im Autismus-Spektrum untereinander austauschen und gegenseitig unterstützen können. Sprechen Sie uns bei Interesse gerne an.

Ansprechpartnerin:
Miriam Vogt (Bereichsleitung), Tel.: 0159 – 06 14 52 81 oder vogt@zephir-ggmbh.de

Unsere Arbeit wird gefördert durch die Berliner Jugendämter.