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Wenn Gehirne anders arbeiten

Grafik "Autismus er-leben"

Neurotypisch vs. neurodivergent?

In einer 6. Klasse sollen die Schüler:innen in kleinen Gruppen ein Plakat zum Thema „Wetterphänomene“ gestalten. Lea (neurotypisch) und Julius (neurodivergent, Autismus-Spektrum) arbeiten zusammen.

Lea freut sich auf die Gruppenarbeit. Für sie bedeutet das Austausch, Ideen sammeln, ein bisschen Spaß nebenbei. Sie beginnt sofort zu reden, wirft Begriffe in die Runde und zeichnet spontan Wolken auf das Plakat. Für sie ist die Atmosphäre lebendig und produktiv – auch wenn es laut ist und alle durcheinanderreden.

Julius fühlt sich überfordert. Alle sprechen gleichzeitig, der Geräuschpegel in der Klasse ist hoch. Niemand schreibt klare Aufgaben auf. Das Thema ist zwar interessant, aber ihm fehlen Struktur und Absprachen. Er weiß nicht, wer was machen soll, und traut sich nicht dazwischenzureden. Das Stimmengewirr stresst ihn, seine Gedanken sind blockiert. Er zieht sich zurück und schweigt. Sein Verhalten wirkt für andere vermeintlich uninteressiert oder faul.

Wie kommt es zu diesem Missverständnis?

  • Neurotypisch: Gruppenarbeit bedeutet Austausch, Flexibilität und spontane Kreativität.
  • Neurodivergent: Gruppenarbeit ohne Struktur, klare Aufgaben, ruhige Umgebung fühlt sich chaotisch, unkontrollierbar und stressig an.

Lea denkt vielleicht: „Warum macht Julius nicht mit?“, während Julius denkt: „Warum arbeitet niemand richtig? Warum sagt keiner, was ich tun soll? Mir wird das zu viel!“

Neurodivergenz – Vielfalt des Denkens verstehen und wertschätzen

Der Begriff Neurodivergenz beschreibt Menschen, deren Gehirne anders funktionieren als beim gesellschaftlichen Durchschnitt, der als Norm gilt. Neurodivergenz ist ein Oberbegriff für neuronale Besonderheiten bei der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung. Dazu zählen unter anderem Autismus, AD(H)S, Legasthenie und Dyspraxie, aber auch Aphantasia (die Unfähigkeit, innere Bilder im Kopf zu erzeugen) und Synästhesie (ein Sinnesreiz löst eine zusätzliche Wahrnehmung in einem anderen Sinn aus, z.B. ein Ton wird mit der Farbe Rot verknüpft).

Erste Begriffsdefinition Ende der 1990er Jahre

Der Begriff entstand als Gegenentwurf zu medizinisch geprägten Sichtweisen, die Unterschiede im Denken vor allem als „Defizite“ bzw. als „Störung“ betrachteten. Erst in den 1990er Jahren entwickelte sich ein neues Bewusstsein. Die australische Autismus-Aktivistin Judy Singer, selbst im autistischen Spektrum, prägte den Begriff Neurodiversity (Neurodiversität) und machte das Konzept in ihrer Dissertation mit dem Titel „Odd People In: The Birth of Community Amongst People on the ‘Autistic Spectrum’: A Personal Exploration of a New Social Movement Based on Neurological Diversity.“ (1998) öffentlich. Sie forderte, neurologische Unterschiede nicht länger zu pathologisieren, sondern als Teil menschlicher Vielfalt zu begreifen – ähnlich wie kulturelle oder sprachliche Unterschiede.

Vergrößerte Wahrnehmungsfähigkeit und andere Stärken

Neurodivergente Menschen denken, fühlen und verarbeiten Informationen auf individuelle Weise – nicht besser oder schlechter, sondern anders. Neurotypische Personen nehmen nur einen Teil der in der Umwelt vorhandenen Informationen wahr. Sie können in einer ¼ Sekunde etwa vier Kriterien aus Sinnesreizen herausfiltern, bei Menschen im Autismus-Spektrum sind es dagegen sieben und mehr! D.h. neurodivergente Menschen verfügen oft über einen viel größeren Aufmerksamkeitsumfang, viel mehr Details werden erfasst. Dadurch entsteht schnell Reizüberflutung, die Situation wird für sie sehr komplex und unübersichtlich. Prioritäten setzen, Impulskontrolle, Handlungsplanung – was als erstes tun und wie? Als Reaktion erfolgt dann oft Rückzug als ein Schutz, um die Überaktivität des Gehirns zu verringern.

Neurodivergente Menschen haben oft große Stärken, die häufig übersehen werden. Z.B. umfangreiche, detailgenaue Wahrnehmungsfähigkeiten, besondere Kreativität oder außergewöhnliche Problemlösungsfähigkeiten. Gleichzeitig stoßen sie auf Hindernisse – sensorische Überforderung, normative Erwartungen und Vorurteile. Hier setzt der Gedanke der Neurodiversität an: Die Verantwortung liegt nicht allein beim anpassungswilligen Individuum, sondern auch bei der Gesellschaft, Räume inklusiver zu gestalten – in Schulen, Arbeitswelten und im sozialen Miteinander.

Neurodivergenz = Vielfalt

Neurowissenschaftler, Psychologe und Pädagoge André Frank Zimpel, Professor für den Förderschwerpunkte geistige Entwicklung und Autismus an der Uni Hamburg, brachte es treffend auf den Punkt: Neurodivergente Menschen sind „…anders, aber vollkommen richtig im Kopf!“ Neurodivergenz bedeutet also, die Vielfalt menschlichen Denkens anzuerkennen. Es geht um Respekt, Teilhabe und das Bewusstsein, dass Anderssein kein Makel ist, sondern eine Bereicherung. Wenn wir lernen, Unterschiede nicht zu bewerten, sondern zu verstehen und uns anzupassen, entsteht ein Miteinander, in dem jeder Mensch seinen Platz finden kann.

Zum Thema finden Sie auch ein YouTube-Video von Miriam Vogt, Autismus-Expertin und Bereichsleiterin der Dualen Autismus- und Familientherapie bei Zephir gGmbH: 

Sehr zu empfehlen auch das Interview „Richtig, nur anders – Neurodivergenz verstehen mit André Frank Zimpel“: 

Duale Autismus- und Familientherapie und Elterntreff bei Zephir gGmbH

Zephir gGmbH bietet für Kinder im Autismus-Spektrum und ihre Eltern/Angehörigen eine „Duale Autismus- und Familientherapie“. Alle sechs bis acht Wochen veranstalten wir außerdem einen Elterntreff , bei dem sich Eltern/Angehörige von Kindern im Autismus-Spektrum untereinander austauschen und gegenseitig unterstützen können. Sprechen Sie uns bei Interesse gerne an.

Ansprechpartnerin:
Miriam Vogt (Bereichsleitung), Tel.: 0159 – 06 14 52 81 oder vogt@zephir-ggmbh.de

Unsere Arbeit wird gefördert durch die Berliner Jugendämter.